Eine Ode an das Alter(n)
Seit ein paar Tagen trage ich tagsüber eine alte Uhr. Das tue ich hin und wieder, selten, um ehrlich zu sein. Bisher noch seltener mehr als 1-2 Tage, danach vielleicht eine andere Vintage, aber immer mit einem unsicheren Gefühl. Klein, leicht, Plexi, nicht wasserdicht und ALT – puh.
Nun habe ich die Seiko Day Dater aus September 1966 seit mehreren Tagen tagsüber am Arm, (Abends und nachts, zu Sport / Duschen / Hundetraining dann doch etwas robusteres. Aber ich fange an, diese kleinen leichten Dinger zu mögen. Da kam ich auf die Idee, den Vintages einen etwas längeren Text zu widmen. Längere Texte beginnen bei mir immer mit einer Entleerung des Kopfes, entweder als Stichwortliste oder als MindMap. Einfach, damit ich keinen Gedanken verschwenden muss, eine geniale Idee nicht zu vergessen. Um diese Stichwortliste herum entsteht der Text. Das war bei meiner Diplomarbeit so, und auch bei meinen Kurzgeschichten.
Im aktuellen Fall reichte wohl eine Stichwortliste:
Vintage, flach leicht, nicht zu spüren, groß, dick, hoch schwer, Pizzateller, Zeittresor, Zeitgeist, Modeerscheinung, Männergröße, Kinderuhr, Tragekomfort, Haptik, Maximalpräsenz, Alltagstauglichkeit, außergewöhnlich, gut bewährt – schwach bewehrt, bin ja auch kein Alteisen, voriges Jahrhundert, alt
Danach kommt entweder die Struktur des Textes, oder der Titel. Hier hatte ich sofort den Titel im Kopf:
Eine Ode an das Alter(n)
Toll. Was genau macht eigentlich eine Ode aus? Wikipedia sagt:
„Ode (weiblich; über lateinisch ode aus griechisch ᾠδή [ōdḗ], wörtlich „[der] Gesang“ oder „[das] Lied“)[1] ist die Bezeichnung für ein Lied oder einen Liedtext, zuerst in griechischer Sprache.“
Und
„Seit dem 16. Jahrhundert wurde in der europäischen Literatur des Humanismus und des Barock besonders erhabene Gedichtformen als Ode bezeichnet, in Bezug zu den antiken Oden.“
Lernhelfer.de sagt:
„Die Ode stellte ursprünglich einen antiken Chorgesang dar. Das heißt, sie repräsentierte eine bestimmte Liedform und wurde deshalb zu einer Melodie gesungen. Man nennt sie deshalb auch chorische (pindarische) Ode. Daneben unterscheidet man die Ode des Einzelgesangs (monodische Ode).“
„Monodische Ode
Daneben unterscheidet man verschiedene Strophenformen des Einzelgesangs (Monodie), […]. Die Ode ist Lyrik in weihevoller, feierlich- erhabener und schwungvoller Form. Sie ist traditionell ungereimt. Emphatisch- enthusiastische Dichtung mit hymnischen Tönen, […].
Eine Ode repräsentiert immer etwas Weihevolles, Feierlich-Erhabenes.
[…]
Ein erhabener Stil mit oft kühler Distanz zeichnet die Ode aus. […] “
So ein Mist. Ich wollte doch Prosa schreiben. Ohne an jedem Wort rumfeilen zu müssen, mehr so den Gesamtkontext im Blick. Soll ich jetzt den Titel ändern, oder mich mit einem herausgezwungenem Text der Lächerlichkeit preisgeben?
Ode an das Alter(n)
Seit 52 Jahren bin ich hier
Bin ich jetzt alt?
Für manche sicherlich
Für mich ganz sicher nicht
Das funktioniert nicht!!
Was sagt der Theasurus denn zum Thema Würdigung?
==> Hymne, Eloge, Preisung
„Die Eloge [e'loːʒə] ist eine Ansprache oder eine schriftliche Äußerung, die betont durch Lobrede, ehrende Worte und Komplimente charakterisiert ist.“
Warum nicht. Wieder ein Wort gelernt.
Eloge an das Alter(n)
Alter ist eines der Dinge, die man in der Regel bekommt, ob man sie will oder nicht. Wie schön diese Sachen sind, insbesondere das Alter, hängt nicht unmaßgeblich vom eigenen Umgang mit dem schleichend eintretenden Zustand ab. Vor dem Altwerden schützt nur früh sterben – eine Option, die von den wenigsten präferiert wird. Warum also schätzen viele das Alter nicht, trauern der Jugend, oder doch zumindest früheren Zeiten nach?
Ein Grund liegt sicherlich in der selektiven Erinnerung – früher war alles besser. Ein zweiter Punkt ist die gegenwärtige Problemfokussierung. Beide Verhaltensmuster sind bis zu einem gewissen Grad sinnvoll und haben nicht unwesentlich zum Überleben der Menschheit beigetragen. Es lohnte sich, sich Sachen, die gut waren (essbare Pflanzen, Jagdtechniken, Wasserstellen, schützende Höhlen), zu merken. Ebenso lohnte es sich, überstandene Gefahren, die gut ausgegangen waren, in den Erinnerungen abzuspeichern. Auf dieser Weise wurde das beschwerliche Leben langsam besser, sicherer und leichter.
Andererseits bestand die Gegenwart nicht aus einem Streichelzoo, sondern aus Gefahren durch Wetter, Hunger, feindliche Nachbarn, wilde Tiere. Hier war es angebracht, den Fokus auf die Probleme, die Gefahr zu richten.
Diese Verhaltensmuster haben sich bis heute erhalten. Sind sie aber heute noch sinnvoll? Oft ja, ganz klar. Wer die Straße überqueren möchte, ein scharfes Küchenmesser zur Hand nimmt, einen fremden Hund streichelt oder dem 2 Meter großen Türsteher mit Pizzateller großen Uhren an den Handgelenken Schimpfworte entgegen schleudert, sollte sich nicht zu leichtfertig in diese Situationen begeben. Auf der anderen Seite sind wir behüteten Mitteleuropäer nicht von Hunger, Seuchen oder echter Armut bedroht, es sei denn, wir verpassen den Ladenschluss und müssen Brot essen, was schon 1 oder 2 Tage alt ist. In der Regel eine sehr geringe Gefahr für Leib und Leben.
Aber ist es für den Alltag wirklich schützend, sich von jedem grauen Haar, von jedem Gramm mehr auf der Waage, den Falten um die Augen, von der unfreundlichen Jugend von heute, dem Smartphonewahn, den Computerspielbesessenen, der monotonen Humpta-Techno-Musik oder dem Aussterben der analogen Technologie persönlich betroffen zu fühlen? Gerade die bereits erlebte Zeit ist doch der Beweis, dass sich alles ändert, dass kaum etwas dauerhaft Bestand hat. Und mehr noch, mit jedem Lebensjahr kommt die Bestätigung, dass man gut mit diesen Veränderungen zurechtkommt und sie überdauert.
Ich habe dies gerade eben erst anhand einer alten Uhr gelernt. Die wurde im meinem Geburtsjahr und Geburtsmonat produziert und ist somit nun etwas über 52 Jahre alt. Sie hat mit Sicherheit den einen oder anderen Service bekommen – so wie ich. Auch ist sie nicht mehr im Auslieferungszustand – so wie ich. Grundsätzlich tut sie aber genau das, was von ihr erwartet wird – so wie ich hoffentlich nicht immer. Klar muss man dem Alter einen gewissen Respekt zollen und sollte ihr nicht mehr alles zumuten – so wie mir.
Aber: Sie hält viel mehr aus, als ich ihr zugetraut habe, ist durchaus vollkommen Alltagstauglich – so wie ich. Auch wenn der Zeitgeist andere Normen diktiert – das ist und war mir immer vollkommen egal. Die Uhr ist nicht nur ein Zeitanzeigegerät, sie ist auch ein Zeittresor. Über die Jahre hat sie viel erlebt, könnte viele Geschichten erzählen. Wenige verstehe ich, viele werden unerzählt und unverstanden bleiben. Sie hat in den letzten 52 Jahren eindrucksvoll bewiesen, was sie kann, und was sie alles überstanden hat. Statt mit Sorge um die Alltagstauglichkeit möchte ich ihr in der Zukunft mit Freude und Vertrauen begegnen, ohne die notwendige Achtung zu vernachlässigen.
Ich wünsche mir, dass ich mir selber und anderen ebenso gegenübertrete.