Die Frau, die in London die Zeit verkaufte
An diesem Wochenende ist mit dem Wechsel zur Winterzeit die korrekte Uhrzeit gefragt. Bis 1939 lieferte Ruth Belville sie direkt nach Hause.
Annika Bangerter
Arnold durfte nicht aus dem Takt geraten. Er war Ruth Belvilles treuster Begleiter und die Grundlage ihrer beruflichen Existenz: Arnold war die Uhr der letzten Zeithändlerin Londons. Fast fünfzig Jahre lang lebte sie davon, ihrer Kundschaft die genaue Zeit nach Hause zu liefern. Und dies bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Jeden Montagmorgen brach Belville nach Greenwich auf, spazierte auf den grünen Hügel und synchronisierte Arnold im Royal Greenwich Observatory. Das war der Arbeitsort des königlichen Astronomen und galt damals als Zentrum der Weltzeit.
In London zog Ruth Belville durch die Strassen, klopfte bei ihren Abonnentinnen und Abonnenten an, zog Arnold aus ihrer Tasche und wartete, bis die Uhren ihrer Kundschaft mit ihm im Gleichschritt tickten.
Den ungewöhnlichen Lieferservice hat Belville von ihren Eltern übernommen. Ihr Vater, Henry Belville, arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts als Assistent von Hofastronom John Pond. Damals setzte die industrielle Herstellung von Uhren ein, wodurch sich immer mehr Menschen eine leisten konnten. Als Statussymbole sollten sie die Zeit korrekt anzeigen, mussten aber noch von Hand aufgezogen werden.
Privatpersonen, vor allem aber Uhrmacher klopften daher bei Hofastronom Pond so häufig an, dass er 1836 die Beherrschung verlor. Um nicht ständig bei seiner Arbeit unterbrochen zu werden, beauftragte er Henry Belville mit dem Zeitinformationsservice. Jeden Tag sollte er nach London reisen, um den Menschen gegen eine Gebühr die korrekte Uhrzeit anzugeben. «Damals gab es im Zentrum von London keine bessere Möglichkeit, die exakte Zeit zu erfahren. Es gab kein Radio und kein Telefon und auch noch keine Zeitsignale der elektrischen Telegrafie», schreibt Historiker David Rooney, der ein Buch über Ruth Belville verfasst hat.
Astronom Pond drückte Henry Belville für seine Stadtrundgänge einen Präzisionschronometer in die Hand: Eine Taschenuhr, die ursprünglich für den Herzog von Sussex angefertigt worden war. Der Uhrennarr fand sie zu klobig, sie erinnerte ihn an eine Bettpfanne, den Vorgänger der Wärmeflasche.
Belvilles Service wurde zu einem einträglichen Geschäft: Schon bald hatte er 200 Kundinnen und Kunden. Darunter waren nicht nur wohlhabende Privatpersonen und Uhrmacher, die ihre Produkte exakt nach Observatoriumszeit stellen wollten. Es kamen Banken hinzu, die ihre Transaktionen möglichst exakt festhalten wollten.
In der Schweiz variierten die Lokalzeiten von Ort zu Ort
In der Schweiz ist ein solcher Zeitlieferservice nicht bekannt. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts stellten die Menschen hierzulande ihre Uhren vor allem anhand von Sonnenuhren. Präzise Angaben waren damit nicht möglich, auch variierten die Lokalzeiten. Zwischen dem Val Müstair GR und Genf lagen 18 Minuten Zeitunterschied. Mit dem Telegrafienetz entstand in den 1850er-Jahren ein neuer Kommunikationsweg, der allerdings eine Vereinheitlichung der Zeit bedingte. 1853 beschloss der Bundesrat, dass die Lokalzeit von Bern für das ganze Land gelten sollte. Auch der Betrieb der Eisenbahn richtete sich danach aus. Doch Telegrafie und Züge machten an den Grenzen nicht Halt: Es brauchte daher ein international einheitliches Zeitsystem, das die Schweiz 1894 übernahm.
Ein Konkurrent versucht, die Zeithändlerin in Verruf zu bringen
Telegrafie, Eisenbahn, Industrialisierung: Wie konnte sich der Zeitlieferservice in London angesichts des Fortschritts weiterhin behaupten? Historiker Rooney weist darauf hin, dass 1856, als Ruths Vater starb, die Telegrafie sich durchgesetzt hatte. «Viele der Abonnenten wollten jedoch jenes Mittel weiterhin nutzen, das sie kannten und dem sie vertrauten», schreibt Rooney. Deshalb baten sie Maria Belville, Henrys Frau, mit dem Zeitinformationsservice weiterzumachen. Die Geschichte wiederholte sich, als sie in den Ruhestand ging und 1892 Ruth den Weg nach Greenwich übernahm.
Die einst vom Herzog verschmähte Uhr war damals schon einige Jahrzehnte im Einsatz, doch erst Ruth Belville gab ihr einen Namen: Arnold. Als «Greenwich Time Lady» wurde Belville stadtbekannt. Irritiert beobachteten Konkurrenten, wie ihr Geschäft florierte – allem technologischen Fortschritt zum Trotz. Einer ging zum Angriff über: John Wynne warb 1908 vor Londoner Stadträten vehement dafür, alle Uhren mittels telegrafischen Zeitsignals mit der Greenwich-Zeit zu synchronisieren. Er war Direktor des grössten britischen Privatanbieters telegrafischer Zeitsignale. Belvilles Lieferservice verspottete er und versuchte, sie als Person in Verruf zu bringen: Nur weil sie eine Frau sei, habe sie wohl die Erlaubnis, beim königlichen Hofastronomen die Uhr korrekt zu stellen. Einem Mann wäre dies verwehrt worden, behauptete Wynne.
Die Zeitung «The Times» nahm den skandalträchtigen Vorwurf auf, worauf sich weitere Medien für Belville zu interessieren begannen. Selbst vor ihrem Haus im Städtchen Maidenhead, westlich von London, lauerten ihr Journalisten auf. Voller Angst, dass sie den Zugang zu Greenwich und somit ihr Geschäft verlieren könnte, schrieb sie dem Hofastronomen mehrere Briefe: Sie habe nichts mit der Kontroverse zu tun. Dieser öffnete Belville und Arnold weiterhin die Tür des Observatoriums. Auch bei ihrer Kundschaft konnte ihr die Kampagne nichts anhaben. Im Gegenteil: Die «Greenwich Time Lady» wurde noch populärer. Weitere 30 Jahre lang zog sie mit Arnold durch Londons Strassen.
Historiker Rooney erklärt ihren Erfolg damit, dass Telegrafenverbindungen teuer waren. Zudem fielen sie oft aus; Ruth hingegen tauchte zuverlässig auf, und ihr Service war vergleichsweise günstig. Mit dem Aufkommen der Telefone informierte sie ihre Kundschaft auch telefonisch.
Im Alter von 86 Jahren beendete sie ihr Geschäft mit der Zeit. Eine Nachfolge gab es nicht. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen – und wie Rooney schreibt, war es unmöglich, sicher durch die Strassen zu gehen. Drei Jahre später starb Ruth Belville, Arnold fand man neben ihrem Bett. Heute lässt er sich im Science Museum in London besuchen.
Aus dem E-Paper vom 30.10.2021
Zuger Zeitung „Schweiz am Wochenende“
Gruss
Christian