Es gibt ja Forumsmitglieder, welche zu den sogenannten "Sekundenfuchsern" gehören. Das sind Personen, die ihrer Uhr immer das letzte Quentchen Genauigkeit abverlangen. Nicht wenige von diesen Pedanten tragen sogar Chronometer. Ich bin einer davon. Was bringt dies nun im täglichen Umgang mit dem Rest der uns umgebenden Bevölkerung?
Diese Frage wurde mir wieder mal auf eindrucksvolle Weise auf dem Weg ins Büro beantwortet.
Wuppertal, 08.02h: Der Bus zum Bahnhof müsste nun lt. unbestechlicher Zeitanzeige meiner 356 Chronometer vor mir stehen. Ich hebe also das Bein (nein, nicht um es dem Hund gleich zu tun) und versuche in den Bus einzusteigen. Eine ältere Frau beobachtet dies recht argwöhnisch und scheut sich nicht, mir eine Frage hinsichtlich meines Tuns zu stellen. Nach dem ich ihr geantwortet hatte, dass ich in den Bus einsteige und sie mich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass da keine physische Anwesenheit dieses Gefährtes vorhanden ist, wurde mir klar, dass ich mich wieder einmal mehr auf Pünktlichkeit verlassen habe, als mir gut tut.
Nach dem ich also diese Prozedur bei anwesenden Massentransportmittel wiederholt hatte, ersparte ich dem Fahrer nicht die Konfrontation mit meinem Chronometer, welches ihn in keiner Weise berührte.
Bahnhof Wuppertal 08.52h: Mein Versuch, in dass lt. meinem Chronometer nunmehr anwesende Schienenfahrzeug einzusteigen endet fast mit einem Sturz auf die leeren Gleise. Ich erinnere mich quasi in der Bewegung an die alte Frau von eben und schaue sicherheitshalber noch mal genau hin. Mir wird schlagartig klar, dass Präzision äußerst verletzend werden kann.
Regionalexpress 09.19h: Ich versuche verzweifelt, die Tür zu öffnen, da nach der Zeitanzeige meines Chronometers der Zug im Bahnhof Düsseldorf steht. Nach dem dritten Versuch fällt mir beim Blick durch die Glasscheibe der Tür, die ich gerade im Begriff bin einzuschlagen, eine Bewegung auf. Da sich die Landschaft recht statisch zu verhalten pflegt, muss sich der Zug wohl bewegen! Ich entscheide mich spontan zur Geduld!
Bahnhof Düsseldorf, Gleis 18, 09.23h: Der Anschlußzug setzt sich pünktlich nach meinem Chronometer vor meiner Nase in Bewegung. Geht doch! Pünktlichkeit ist also möglich!
Regionalexpress Gleis 9, 09.45h: Der Zug setzt sich entgegen meines Chronometers nicht in Bewegung.
Regionalexpress Gleis 9 STEHEND 09.55h: Ein uniformierter Quarzuhr-Träger nähert sich mir und äußert den Wunsch, meine Fahrkarte in Augenschein zu nehmen. Ich realisiere ob dieses Verlangens einen Bediensteten des Fahrgeschäftes und ignoriere seinen Wunsch. Statt seinem Begehren nach zukommen, stelle ihm mit einem Hinweis auf meinen Chronometer die Frage nach dem Anfang der Vorwärtsbewegung des schienengebundenen Fahrzeuges.
Er setzt mich davon in Kenntnis, dass noch auf die Ankunft eines Anschlusszuges gewartet wird. Mir wird klar, dass nur auf Züge gewartet wird, in denen ich mich garantiert nicht befinde. Dies ist auch logisch, da die Fahrgäste, auf die gewartet wird, keinen Chronometer tragen und daher gar nicht wissen können, ob der Zug schon abgefahren ist.
Regionalexpress, 10.16h: Ich ünterdrücke mühsam den Drang zur gewaltsamen Türöffnung, da lt. meinem Chronometer der Zug im Bahnhof Oberhausen stehen müsste, sich aber (oh Wunder!) noch bewegt.
Bahnhof Oberhausen 10.36h: Die Anschluß-Straßenbahn ist pünktlich abgefahren und hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Schön wäre natürlich, wenn ich dringesessen hätte.
Büro Oberhausen 10.50h: Ich bin am Ziel und stelle fest, dass mein Gesprächspartner, mit dem ich um 10.30h verabredet war noch nicht eingetroffen ist, da (lt. Anruf) sein Zug Verspätung hat. Ich habe nur einen Gedanken: IN WELCHER WELT LEBE ICH EIGENTLICH!
Aber: ICH BIN AM ZIEL - Nur: ich muss auch wieder zurück!