Eine kleine Geschichte aus meiner Heimat oder: Die Chronik eines angekündigten Sterbeprozesses
Aus der Periode der Entindustrialisierung Hattingens erinnere ich mich, wie damals, im Jahr 1987, in dieser kleinen Stadt im Ruhrgebiet die Luft brannte, da durch das bevorstehende Aus des Stahl- und Walzwerks Henrichshütte knapp 5.200 Arbeitsplätze akut bedroht waren - für eine Stadt mit ca. 55.000 Einwohnern eine Katastrophe. Entsprechend waren sämtliche Familien der Betroffenen, Angehörige, Freunde, Sympathisanten, Gewerkschafter usw. auf den Beinen, um zu protestieren und Widerstand zu leisten, insgesamt weit über 30.000 Menschen! Am Ende einigten sich der Hütten-Eigner Thyssen und die Gewerkschaft IG Metall darauf, dass die Edelstahlproduktion und das Schmiedewerk erhalten blieben und nur die beiden Hochöfen (Kapazität: inges. 4.600 t Roheisen täglich) und das Walzwerk stillgelegt wurden - beide Werke waren aus betriebswirtschaftlicher Sicht schon lange völlig unrentabel. Die Hochöfen der Henrichshütte wurden ausgeblasen, das Walzwerk niedergelegt und die Roheisen- wie die Walzstahlproduktion wurden komplett vom Stahlwerk in Duisburg-Rheinhausen übernommen; in Hattingen wurden nur noch Spezialstähle (bis 1993, noch ca. 2.400 Arbeitsplätze) und geschmiedete Einzelstücke wie z. B. CASTOR-Behälter (bis 2003, noch ca. 800 Arbeitplätze) gefertigt, dann schloss Thyssen (bzw. ab 1999 ThyssenKrupp) endgültig die Werkstore in Hattingen.
Vom Hochofen 2 blieb nur das Fundament übrig, die sogen. Ofensau, der Rest, also die Anlagen zur Verhüttung und das Walzwerk wurden demontiert und nach China verkauft. Hochofen 3 war technisch bereits veraltet und bliebt daher stehen; er sollte eigentlich gesprengt und verschrottet werden, doch schließlich setzte sich der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) mit seiner Idee von einem Industriemuseum durch; so blieben der Hochofen 3 und einige Gebäude wie z. B. die riesige Gebläsehalle, der Gaswäscher, ein großer Teil der Erzbunker u. a. erhalten und vermitteln den Besuchern einen Eindruck von den Dimensionen der technischen Anlagen und von der Mühe und Gefahr, denen die Arbeiter der Henrichshütte tagtäglich ausgesetzt waren, denn die Arbeit am Hochofen war anstrengend und gefährlich, davon zeugen z. B. die fünf Todesfälle bei einem Hochofenunglück im Jahr 1964.
Entgegen allen Mythen und Legenden des Industriezeitalters war die Arbeit auch nicht sonderlich gut bezahlt. So galt z. B. der Beruf des Abstechers am Hochofen, eine wirklich sehr anstrengende und äußerst gefährliche Tätigkeit, bei der man in bis zu 13 Stunden langen Schichten in unmittelbarer Nähe zu ca. 1.500° C heißem flüssigen Roheisen arbeitete, bis 1974 lediglich als Anlernberuf, bei der man weniger als 8,50 DM (= 4,34 €) Stundenlohn erhielt - auch für die damalige Zeit keine sonderlich gute Bezahlung für einen Job, bei dem man permanent buchstäblich sein Leben und seine Gesundheit aufs Spiel setzte.
Stillgelegter Hochofen 3 der Henrichshütte in Hattingen/Ruhr
Links vor dem Hochofen 3 ist noch die Ofensau von Hochofen 2 zu erkennen
Die riesigen Rohrleitungen dienten der Zuführung von heißer Luft ("Wind") in den
Hochofen, um die zur Roheisengewinnung erforderlichen Temperaturen zu erreichen
und der Abführung des beim Schmelzprozess entstehenden tödlichen Gichtgases