Rennmaschinen fürs Handgelenk
Die Marke Richard Mille erobert in nur 25 Jahren die Uhrenwelt – mit Hightech, radikalem Design und Preisen jenseits der Luxusgrenze
Andrea Martel
Sie ist kaum schwerer als ein Blatt Papier, aber teurer als ein Sportwagen. In ihrem Innern rotiert ein Tourbillon, und trotzdem ist die Uhr robust genug, um an Rafael Nadals Handgelenk Grand-Slam-Turniere zu überstehen oder eine ganze Formel-1-
Saison im Cockpit von Felipe Massa.
Willkommen in der Welt von Richard Mille. Obwohl erst 25 Jahre alt, zählt die Marke mit rund 1,6 Milliarden Franken Umsatz zu den grössten der Branche und bewegt sich in ähnlichen Sphären wie Patek Philippe oder Audemars Piguet.
Am Anfang stand die Vision eines rennsportbegeisterten Uhrenmanagers. Ende der 1990er Jahre, kurz vor seinem 50. Geburtstag, beschloss der Franzose Richard Mille, die Uhr seiner Träume zu bauen: eine mechanische Sportuhr, die Hightech-Materialien und avantgardistisches Design mit extremer Robustheit vermählt.
Vom Experiment zur Marke
In der Schweizer Haute Horlogerie betrat er damit Neuland. Teure Uhren bestanden meist aus schwerem Gold oder Platin, und kompliziert war in der Regel gleichbedeutend mit empfindlich. Richard Mille, geprägt von der Automobiltechnik, hielt das für rückständig, wie er vor einigen Jahren der «New York Times» sagte: «Die meisten Marken verwenden moderne Werkzeuge, um im Grunde Nachbauten von Uhren des 19. Jahrhunderts zu herzustellen. Das ist, als würde man die heutige Autoproduktion nutzen, um Bugatti-Repliken zu bauen.»
Mille wollte die Regeln der Uhrmacherei neu schreiben – ohne Kompromisse bei Ideen oder Kosten. Ob die Welt dafür bereit war, wusste er nicht: «Ich hatte dieses Konzept im Kopf, aber keine Ahnung, ob es ein Publikum gibt. Ich hoffte, ein paar Dutzend Sammler würden Gefallen daran finden.»
Es sollten mehr als ein paar Dutzend werden. Der erste Prototyp, die RM 001, den Mille 2001 auf der Uhrenmesse Baselworld präsentierte, begeisterte. Er liess keinen teuren Stand aufbauen, sondern wanderte stattdessen mit der Uhr durch die Hallen, zeigte sie Händlern und Partnern – und warf sie am Ende seiner Präsentation zu Boden, um ihre Robustheit zu beweisen.
Die Uhr aus Titan und Kohlenstoff-Nanofaser hatte eine markante, an ein Fass erinnernde Gestalt – ein Design, das zu Richard Milles Markenzeichen werden sollte. Trotz einem Preis von 130 000 Dollar (damals rund 220 000 Franken) gingen Hunderte Bestellungen ein. Mit dem Erfolg der RM 001 hatte sich Richard Mille die Zukunft seiner Marke gesichert. Gebaut wurde das erste Modell allerdings nur in einer Auflage von 17 Stück.
280000 Franken pro Exemplar
Gefertigt werden die Uhren seit Beginn in Les Breuleux, einem 900 Seele-Dorf im Schweizer Jura. Dort fand Richard Mille in Dominique Guenat den idealen Partner. Guenat, Patron des Familienunternehmens Montres Valgine und selber Autofan, hatte das Know-how und die Begeisterung, um Milles Vision umzusetzen.
Gemeinsam gründeten sie 2001 die Horométrie SA, für die das Familienunternehmen Montres Valgine seither die Richard-Mille-Uhren fertigt – oft in Zusammenarbeit mit Spitzenunternehmen wie APLL (Audemars Piguet Le Locle, früher Renaud & Papi) oder der Manufaktur Vaucher.
Die Produktion ist von wenigen Dutzend auf heute knapp 6000 Uhren pro Jahr gewachsen. Bei einem Durchschnittspreis von über 280 000 Franken geht es allerdings nicht in erster Linie um Stückzahlen – Exklusivität und Innovation stehen im Vordergrund. Seit der Gründung hat die Marke über 140 Modelle lanciert, oft mit neuartigen Materialien und technischen Lösungen.
Prägend ist die Zusammenarbeit mit Spitzensportlern, welche die Uhr ihres Sponsors nicht einfach kurz vor der Preisverleihung anziehen, sondern im Wettkampf tragen. So entstand 2010 mit Rafael Nadal, der früher nie eine Uhr trug, das damals leichteste Tourbillon der Welt: 18,8 Gramm. Es folgten mehrere weitere Nadal-Modelle, darunter 2020 die RM 27-04, deren Uhrwerk an einem feinen Stahlseilnetz aufgehängt ist – eine Konstruktion, die an die Bespannung eines Tennisschlägers erinnert.
Das neueste Modell, die RM 27-05 von 2024, wiegt ohne Band sogar nur 11,5 Gramm und hält extremsten Beschleunigungen bis 14 000 g stand. Zum Vergleich: Menschen verlieren schon bei etwa 5 g kurzzeitig das Bewusstsein; selbst Kampfpiloten erreichen mit Spezialanzug kaum 9 g. «Rafa hat tatsächlich fünf oder sechs Uhren demoliert, bevor wir das erste Modell lanciert haben – sie sind ihm beim Spielen regelrecht explodiert», sagt Mille. «Aber genau so testen wir unsere Produkte.»
Die Technik ist sichtbar
Auch bei den Komplikationen bricht Richard Mille mit Traditionen. Die gerne verwendete Gangreserve, die anzeigt, wie lange eine Uhr noch läuft, bis sie wieder aufgezogen werden muss, interessiert ihn wenig. Lieber integriert er eine Drehmomentanzeige (Torque-Indicator), die die Spannung der Zugfeder misst – vergleichbar mit einem Drehzahlmesser im Auto. Oder einen mechanischen G-Sensor, der es dem Träger ermöglicht, Beschleunigungen sichtbar zu machen.
Die ganze Technik ist dabei nicht hinter einem Zifferblatt versteckt. Sämtliche Uhren von Richard Mille sind skelettiert, das heisst, sie zeigen die Zahnräder und Brücken offen. Hinzu kommen regelmässig künstlerische, oft unkonventionelle Verzierungen. Bei der RM 19-02 Tourbillon Fleur öffnet und schliesst sich die Blüte einer Magnolie um das Tourbillon, bei der RM 88 Smiley ist das Gehäuse mit winzigen farbigen Figürchen gefüllt, vom Flamingo über den Kaktus bis zum Cocktailglas.
Der Vertrieb ist so einzigartig wie die Uhren. Richard Mille setzte von Beginn an auf wenige, persönlich ausgewählte Partner, die mittlerweile in die Organisation integriert sind – je einen für die USA, Europa / Naher Osten, Asien und Japan. 2005 eröffnete die Marke in Hongkong die erste Richard-Mille-Boutique. Die anderen Weltregionen folgten später: London im Jahr 2014.
Bis 2019 lieferte Richard Mille in Europa noch an externe Händler wie Harrods. Seither setzt die Marke ausschliesslich auf eigene Boutiquen, um die Beziehungen zu den Kunden selbst zu pflegen. Dabei geht es um Details: Ein guter Richard-Mille-Verkäufer weiss nicht nur, welches Getränk der Kunde beim Besuch in der Boutique bevorzugt (im Kühlschrank der Londoner Boutique stehen unter anderem drei verschiedene Sorten von Red Bull), sondern auch, welche Hobbys er hat.
Darauf baut die persönliche Betreuung auf. Wer eine Richard Mille kauft, wird Teil der «Familie» – und erhält Einladungen zu renommierten Treffen der Automobilkultur, wie dem Chantilly Arts & Elegance oder dem Le Mans Classic. Geschenke sind nie zufällig, sondern abgestimmt auf die Interessen des Kunden: vom eleganten Koffer über das Korkenzieherset bis zum von Rafael Nadal signierten Tennisschläger.
Jeder Käufer wird geprüft
Doch wie wird man Kunde? Der Weg zur Richard-Mille-Uhr beginnt mit dem nötigen Kleingeld – unter 90 000 Franken gibt es keine Uhren. Obendrein ist eine Hintergrundprüfung obligatorisch, was nicht wirklich überrascht, geht es doch um ähnliche Summen wie im Finanz- oder im Immobilienbereich. Die Vorschriften dienen dazu, Geldwäsche auszuschliessen und die Reputation der Marke zu schützen.
Sobald die Prüfung abgeschlossen ist, ist ein Kauf möglich. Falls es in der Boutique Uhren hat, können sie direkt gekauft werden. Ausstellungsstücke kennt Richard Mille im Gegensatz zu anderen Marken nicht. Wer ein Modell will, das nicht verfügbar ist, bleibt idealerweise in Kontakt – und reagiert rasch, wenn der Anruf kommt, dass die Uhr da sei.
Eine weitere Möglichkeit ist, eine gebrauchte Richard Mille zu kaufen. Bereits 2015 startete die Marke – lange vor anderen Luxuslabels – in Japan ihr eigenes Pre-Owned-Programm, also den Verkauf von gebrauchten Uhren. Seit 2021 sind alle Weltregionen abgedeckt.
Unter Namen wie «NX One» in Japan oder «Ninety Watches & Jewellery» in Europa und dem Nahen Osten betreibt die Marke eigene Boutiquen für gebrauchte, zertifizierte Uhren (Certified Pre-Owned, CPO). Diese Boutiquen verkaufen in der Regel historische Richard-Mille-Referenzen, die nicht mehr produziert werden – jedes Stück wird dabei von einem spezialisierten Uhrmacher in den Originalzustand zurückversetzt und erhält eine neue, zweijährige Herstellergarantie.
In besonderen Fällen nimmt Ninety über diesen Kanal auch Uhren aus der laufenden Kollektion zurück: «Hat jemand vor kurzem eine Richard Mille erworben und möchte sie nun gegen ein lange erwartetes Modell eintauschen, finden wir eine Lösung», sagt Dean Harding, General Manager der Londoner Ninety-Boutique, nur wenige Gehminuten von der Richard-Mille-Boutique entfernt.
Der eigene Name der Secondhand-Boutiquen – zu Beginn für viele Kunden erklärungsbedürftig – erhöhe die Flexibilität, erklärt Harding. So könne man bei Bedarf auch mit anderen Marken handeln. «Wenn jemand eine schöne Patek gegen eine Richard Mille aus dem Ninety-Bestand eintauschen will, können wir das möglich machen.»
Die nächste Generation
Es gab in den letzten 25 Jahren verschiedene Versuche, Richard Mille zu übernehmen, unter anderem durch den Luxusgüterkonzern Kering. Aber die Gründer sahen keinen Anlass, den eingeschlagenen Weg als Familienunternehmen zu verlassen, zumal beide Kinder und damit potenzielle Nachfolger hatten.
2019 kam es zum Generationenwechsel. Richard Mille und Dominique Guenat zogen sich aus der operativen Führung zurück. Seither leiten Amanda und Alexandre Mille sowie Cécile und Maxime Guenat das Unternehmen. Die Aufgaben sind klar verteilt: Amanda verantwortet Marke und Partnerschaften, Alexandre den Handel. Cécile führt Kreation und Entwicklung, ihr Bruder Maxime die Manufaktur.
Die neue Generation setzt eigene Akzente – im Design wie in der Technik. Unter Cécile Guenat hat das Frauensegment deutlich an Gewicht gewonnen. Die ursprünglich als sehr männlich wahrgenommene Marke fertigte zwar schon früh Modelle für Frauen, doch liegt ihr Anteil inzwischen bei 35 Prozent.
Gleichzeitig wollen die jungen Führungskräfte vieles bewahren, was die Marke stark gemacht hat. Die familiäre Prägung gilt weiterhin als zentral. Alexandre Mille nennt als wesentlichen Erfolgsfaktor die enge, vertrauensvolle Beziehung seines Vaters zu den Vertriebspartnern – und sieht diese nun in der nächsten Generation fortgesetzt. «Wir vertrauen uns völlig.» Das spare Zeit und ermögliche schnelle Entscheidungen – oft genüge ein kurzer Anruf oder eine Nachricht, wo andere mehrere Sitzungen ansetzen würden.
Richard Mille ist heute 74 Jahre alt. Er hat die mechanische Uhrmacherei als Extremdisziplin neu definiert – und dabei eine warme, fast familiäre Beziehung zu seinen Kunden geschaffen. Seine Uhren sind bis heute das, was er von Anfang an wollte: Rennmaschinen fürs Handgelenk. Interviews zur Uhrenmarke, die seinen Namen trägt, gibt er schon länger keine mehr – das sollen jetzt die Jungen machen.
Stattdessen widmet er sich wieder seinem grössten Hobby, dem Automobilrennsport.
Aus dem E-Paper der NZZ vom 13.10.2025
Gruss
Christian ![]()